Digitalisierung erfordert eine neue Arbeits- und Konfliktkultur
Zehn Thesen des KKV Bayern zum Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft – und den Chancen des Evangeliums
Der Mensch hinter der digitalen Technik bestimmt den Wohlstand: Der KKV Landesverband Bayern Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung will eine Antwort geben auf Herausforderungen der Digitalisierung für Wirtschaft und Arbeitswelt, um den Wandel in der Gesellschaft als Christen zu gestalten und die Kirche neu aufzubauen. Die Thesen verstehen sich vor allem als Anstoß, die Ideen im Gespräch zu erschließen.
1. Neue Technik verändert mit neuen Arbeitsweisen die Gesellschaft – und auch die Kirche.
Zum Beispiel stärkte die Dampfmaschine die wirtschaftliche Macht der Unternehmer. Sie forderten, im Staat mitentscheiden zu können, wofür ihre zusätzlichen Steuern ausgegeben werden. So lösten sie die Französische Revolution mit aus – als Folge wurde die Kirche säkularisiert. Auch das Auto ermöglichte es, Lebensstil und Meinungen stärker auszudifferenzieren, machte unabhängiger vom Wohnort und von der Ortspfarrei. Daher konnte sich auch Glauben individualisieren. Und es vergrößerten sich die Unterschiede innerhalb der Kirche.
Daher geht es in diesen Thesen um die Frage: Wie verändern die Folgen der Digitalisierung heutige Organisationsmuster in Unternehmen, Gesellschaft und eben auch in der Kirche?
2. Digitalisierung treibt aktuell den Wandel an. Sie rationalisiert materielle und strukturierte Arbeit weg, schafft aber neue Arbeit im Umgang mit Wissen.
Elektronisch gesteuerte Maschinen haben die meiste materielle Arbeit übernommen, Computer/Künstliche Intelligenz die strukturierte Informationsarbeit wie Daten analysieren, Roboter steuern, Telefongespräche vermitteln. Damit verschwindet nicht die Arbeit an sich. Was an Beschäftigung neu entsteht, ist Arbeit am Menschen sowie Wissen zwischen Menschen anzuwenden: zum Beispiel Informationen bewerten, sie in Zusammenhänge einordnen, planen, organisieren und Konflikte managen.
Grenzen des Wirtschaftswachstums gibt es aus ökologischen Gründen in der Produktion von materiellen Gütern wie Autos und Kühlschränken. Im Immateriellen und Qualitativen gibt es keine Grenzen des Wirtschaftswachstums und kein Ende der Arbeit.
3. Die Auswüchse der Digitalisierung müssen Antrieb sein, den Wandel zu gestalten.
Jede neue Technik erzeugt neben neuen Freiheiten zunächst auch Destruktion, etwa die Dampfmaschine den Manchesterkapitalismus – dieser wird aber dann ersetzt durch die Soziale Marktwirtschaft. Die Französischen Revolution erzeugt zunächst Chaos und Terror; er wird aber später überwunden durch die Gewaltenteilung. Auch die Digitalisierung bringt negative Erscheinungen hervor: Mobbing im Internet, Hasskommentare und Verbreitung von Fake News, Darknet und Cyberkriminalität. Deswegen den digitalen Modernisierungsschub abzulehnen oder gar zu bekämpfen, ist falsch. Die destruktive Seite der Digitalisierung soll Antrieb sein, den Wandel mit neuem Verhalten und neuen Gesetzen zu gestalten, ohne die Chancen zu vergeben.
4. Eine funktionierende, starke Wirtschaft ist auch für Christen erstrebenswert.
Wirtschaftliches Ziel eines Christen ist nicht Überfluss und Konsum an sich. Sondern dass genug Ressourcen zur Verfügung stehen, um Leiden zu verringern, um Bildung für alle und soziale Absicherung zu ermöglichen, Benachteiligte und das Allgemeinwohl zu unterstützen. Wachstum bedeutet, Ressourcen effizienter zu verwenden, mit weniger Ressourcen auszukommen, die Energie nachhaltig ohne zusätzliches C02 zu gewinnen und vor allem mehr Wissen zu generieren und anzuwenden. Eine starke Wirtschaft sichert Chancen, dass sich die Menschen mit ihren Gaben entfalten können und die Möglichkeit bekommen, sich in Freiheit für das Gute zu entscheiden – ein Grundanliegen vor Gott.
Ein verschleppter Wandel dagegen erzeugt Stagnation mit allen Krisenerscheinungen wie Arbeitslosigkeit und Verteilungskämpfen. Christen sollten daher die positive Weiterentwicklung einer wachsenden Wirtschaft unterstützen.
5. Je mehr Technik eingesetzt wird, umso mehr hängen die Ressourcen der Gesellschaft von den Menschen hinter der Technik ab.
Wohlstand hängt davon ab, wie effizient gearbeitet wird. Im Industriezeitalter ermöglichten in erster Linie technische Innovationen, produktiver zu werden und mehr Güter zu erzeugen. Jetzt findet der zunehmende Anteil der Arbeit immateriell in der gedachten Welt statt, meist zwischen Menschen: Informationen suchen, jemanden beraten; verstehen, was der andere meint; um die bessere Lösung ringen; über Ziele entscheiden. Bei Maschinen wussten wir, wie wir produktiver werden – wie aber steigern wir die Produktivität bei immateriellen Arbeiten? Heute bestimmt effizienter Umgang mit Wissen den Wohlstand. Dabei rücken nun alle Themen in den Mittelpunkt, die den Menschen hinter der Technik ausmachen. Der öffentliche Fokus auf Technik geht demnach am Kern der wirtschaftlichen Instabilität vorbei. Politik und Unternehmen sollten stattdessen den Blick wenden auf die systemische Produktivität von Menschen in Teams/Gruppen.
6. Um Wissen produktiv zu nutzen, brauchen die Menschen neben Fach-Kompetenz vor allem Motivation und Kooperationsfähigkeit.
Je komplexer alles wird, umso weniger überblickt der einzelne das Ganze und ist auf das Wissen anderer angewiesen. Drei Mittelmäßige, die gut zusammenarbeiten, sind dabei bedeutend produktiver als ein genialer Einzelkämpfer, dem es leider nicht gelingt, die Ergebnisse der Arbeitsteilung zusammenzuführen. Um Fehler bei anderen und auch auf höherer Ebene zu korrigieren, ist Transparenz im Unternehmen notwendig. Der einzelne ist mitverantwortlich für das Ganze, nicht nur für seine Kostenstelle oder seine Abteilung. An Fachkompetenz fehlt es am wenigsten, die größte Knappheit für den Wohlstand liegt in der Bereitschaft, sich für ein Projekt über den Eigennutz hinaus einzusetzen sowie in der Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten.
7. Wirtschaftswachstum hängt zunehmend ab von einer hoch entwickelten Konfliktkultur.
Das Wohl des Ganzen zu verfolgen, ist konfliktreich, weil es Kollegen wie Vorgesetzte hinterfragt und herausfordert. Alle, denen es nicht gelingt, Konflikte konstruktiv und produktiv abzuarbeiten, werden ökonomisch zurückfallen. Denn: Schlechtes Arbeitsklima und Mobbing machen krank, führen zu Arbeitsausfällen, gefährden den Fortbestand eines Unternehmens und verursachen gesamtwirtschaftlichen Schaden. Produktivitätsfresser bei immaterieller Arbeit sind etwa: Neid, ungeklärte Emotionen, unklare Machtstrukturen und Abläufe, Unehrlichkeit, egoistische Interessensverfolgung an der eigenen Karriere anstatt am Gesamtnutz und berechtigten Interessen anderer, Intransparenz, destruktives Verhalten, um Konkurrenten auf der Statusebene auszuschalten anstatt argumentativ zu überzeugen,…
Konflikte nicht zu bearbeiten und den anderen auflaufen zu lassen, das behindert Unternehmen wie Gesellschaft – Konflikte müssen angenommen werden. Erst wenn die Bedeutung von Konfliktkultur akzeptiert ist, kann sie entwickelt und eingeübt werden.
8. „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern die Auseinandersetzung“ (Matthäus 10,34)
Konflikte sind normal, weil Leben und Arbeiten bedeuten, sich ständig entscheiden zu müssen: Optimiert man seinen Eigennutz – oder hat man Respekt vor den berechtigten Interessen der anderen? Ist man nur an seiner eigenen Kostenstelle orientiert oder sieht man das gesamte Projekt? In früheren Kulturstufen hatten Leibeigene oder Untergebene wenig zu entscheiden, sie hatten körperliche Strafen und Verlust an Eigentum zu fürchten. Noch vor Jahrzehnten wurden Kinder eher zu Gehorsam und zum Folgen erzogen anstatt zum eigenverantwortlichen Denken. Auch heute noch werden die meisten Konflikte über Beziehungen geführt oder über Macht entschieden (wer den Chef besser kennt oder mehr Verbündete hat), anstatt über inhaltliche Aspekte und vom Gesamtnutzen betrachtet. Das neue Produktivitätsparadigma der Arbeit mit Wissen erfordert, Konflikte transparent nach inhaltlichen Kriterien zu entscheiden, sie ehrlich, sachbezogen und wertschätzend zu führen – das entspricht der Botschaft des Evangeliums.
Daran sollte sich auch die Kirche orientieren, die nicht zuletzt in der Krise ist, weil in der inneren Zusammenarbeit persönliche Beziehung, Macht und Status oft wichtiger waren und sind als inhaltliche Kriterien.
9. Die unterschiedlichen Wertvorstellungen von Wissensarbeitern geraten in einen wirtschaftlichen Wettbewerb.
Geld kann man überall leihen, sich Maschinen und Anlagen weltweit zusammenkaufen, an jedem Ort der Welt einen Spezialisten mieten, das Wissen der Menschheit aus dem Internet ziehen – der entscheidende Standortfaktor wird die kulturelle Fähigkeit, mit Wissen umzugehen. Und das ist immer Umgang mit anderen Menschen, die wir unterschiedlich gut kennen, unterschiedlich gerne mögen, und mit denen wir unterschiedlich viele berechtigte Interessensgegensätze haben. Diese Erfolgsmuster sind völlig anders als früher an der Ackerfurche oder an der Stanzmaschine: Die Ressourcen der Gesellschaft hängen davon ab, Wissensarbeit kommunikativ zu gestalten und die begleitenden Konflikte produktiv zu bewältigen. Das setzt voraus, dass der einzelne seine individuellen Gaben entfalten kann, sie aber für das Allgemeinwohl einsetzt.
Wohlstand wird so zu einem Problem des Sozialverhaltens und seiner grundlegenden Werte, die tief in die religiösen, kulturellen und geschichtlichen Wurzeln zurückreichen. Da Wissensarbeit überall in der Welt dieselbe ist, geraten alle Kulturen weltweit unter Druck, ihre Regeln und ihr Verhalten neu zu reflektieren. Kulturen, die nur individualistisch sind oder in denen der einzelne gezwungen wird, sich einer Gruppe (Staat, Religion, Ideologie) unterzuordnen, sind nicht produktiv. Die wirtschaftliche Zukunft gehört universalethischen Kulturen, die eine Balance finden zwischen Eigennutz und den berechtigten Interessen der anderen.
10. Die Bedeutung von Weltbildern für den Umgang mit Wissen stellt eine Chance für das Evangelium dar, neu erzählt zu werden.
Müssen Unternehmen und Beschäftigte ihre Werthaltung reflektieren und ihre Grundwerte und Weltbilder thematisieren, hat das Christentum eine neue Chance, das Evangelium zu erzählen. Wer sein Leben auf Gott hin lebt, sieht im Mitarbeiter, im Arbeitskollegen, im Geschäftspartner immer auch ein Ebenbild Gottes. Daraus resultieren Haltungen wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Gewissenserforschung, Förderung von Schwachen und ein Ziel, das über den Eigennutz in der Welt hinausgeht. Nicht das religiöse oder konfessionelle Etikett ist dabei entscheidend – die wirkliche Werthaltung eines Menschen zeigt sich in seinem gelebten Verhalten: „Nicht der, der „Herr, Herr“ sagt, kommt ins Himmelreich, sondern der, der den Willen des Vaters tut“.
Aus dem Evangelium ergeben sich Verhaltensweisen, die effizientes, produktives und wirtschaftliches Arbeiten fördern. Das Ziel dabei ist nicht, in der Welt noch erfolgreicher zu sein. Produktiv mit Wissen umzugehen, erfordert im Arbeitsalltag genau jene Eigenschaften zu entwickeln und zu leben, die vor Gott entscheidend sind.
Auf der Basis von Überlegungen und Vorlagen seines stellvertretenden Vorsitzenden Erik Händeler hat der Landesvorstand des KKV Bayern in einer Videokonferenz am 4. Juni 2020 den in zwei Workshops zusammen mit Vertretern der Ortsgemeinschaften erarbeiteten Text redigiert und die hier vorgestellte Fassung beschlossen.
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